Bypassing

Im Nachgang der US-Präsidentschaftswahlen mache ich mir viele Gedanken über das, was sich im Vorhinein schon, aber auch im Nachgang ausdrückt. Warum ist die Politik, Führungsfiguren und ihre “Anhänger” ein solches Pulverfass? Warum meine ich, dass es nur die Spitze des Eisbergs beschreibt? Wo findet tatsächlich der Wandel statt und was sind die Qualitäten, die Wandel hervorbringen?

Zunächst einmal glaube ich, dass wir grundsätzlich aneinander vorbeireden und dass wir wenig geübt sind darin, Dinge - wenigstens erst einmal - stehen und wirken zu lassen.

Nicht nur unser individuelles Gehirn, sondern auch das kollektive sucht stets nach einer direkten Einordnung, d.h. einer klaren Meinung, einem Urteil, dass gerade in Zeiten der Unsicherheit hilfreich erscheint.

Das Problem ist bloß, dass es auch einengt. Und dass es in der Regel am Kern der Sache vorbeigeht.

Wir sind es nicht gewohnt, unsere eigene Gefühlsreaktion, gerade wenn sie “unangenehm” ist, d.h. irgendeine Form von Angst, Trauer oder Zorn, auszuhalten. Unsere Kurzschluss-Reaktion, d.h. unsere antrainierte Reaktion, ist die Außenorientierung. Wir finden recht schnell, einen/eine oder eine ganze Gruppe, an der wir unsere Gefühle abarbeiten können. Wiederum durch Urteil, Analyse und Beschuldigung. Projizieren heißt immer auch unsere eigenen Gefühle unterdrücken.

Das erlaubt uns nicht, offen zu sein, unsere eigenen Annahmen und Überzeugungen zu hinterfragen und die vielen Nuancen, die Einzelpersonen und Gruppen in sich tragen, aufzunehmen.

Wenn wir alleine auf der Ebene des politischen Narrativs, der verschiedenen Positionen, möglicher politische Konsequenzen bleiben, dann bypassen wir (d.h. vermeiden wir), worum es eigentlich immer geht: nämlich um menschliche Beziehungen, die sich ja auch gesellschaftlich ausdrücken, und wie relevant auch in diesem großen Rahmen Emotionen, emotionale Verwundungen und daraus resultierende gesellschaftliche Verwundungen (Spaltungen) sind (z.B. während der Sklaverei oder auch die Phase 2020-2023).

In diesen mehr oder weniger öffentlichen Diskussionen ist immer der im Vorteil, der sich im politischen Diskurs wohlfühlt. Der argumentiert, die fehlerhafte Argumentation anderer aufzudecken pflegt und sich scheinbar auskennt, im politischen Ursache-Wirkungs-Prinzip.

Ich frage mich jedoch, ob das nicht vernachlässigt, dass nichts so unvorhersehbar ist, wie die Entwicklung zwischenmenschlischer, d.h. kollektiver, Dynamiken. Dass wir auch, wenn wir meinen, es sei so klar, wie wer in welchem Kontext agieren wird, missachten, dass wir alle einer letztlich einer Logik ausgesetzt sind, die eben genau das nicht ist: nicht linear, nicht planbar, nicht vorhersehbar, also einer universellen Logik, wenn man das so will. Genauso wie wir immer auch die Möglichkeit haben, die die uns führen, zur Verantwortung zu rufen.

Ich bin fest überzeugt, dass der entscheidende Grundstein für ein erfüllendes, kooperatives, kreatives Miteinander, dass wir uns in anderen Worten vielleicht am Ende alle wünschen, im “Kleinen” startet. In der eigenen Selbstreflektion, im Selbstvertrauen (auf das eigene Gefühl, die eigene Wahrnehmung, die eigene Intuition), in der Fähigkeit, die eigenen Schatten zu sehen und anzuerkennen, genauso wie das Licht, das wir in uns tragen. Dass sich nämlich in Mitgefühl, Offenheit, Verständnis, Kollaborationsfähgkeit und vielem mehr ausdrückt.

Von dieser Warte aus warten wir nicht mehr auf den oder die Retter/in. Wir nehmen auch nicht an, dass eine/r teuflisch ist. Wir kennen unsere eigenen Verfehlungen, wissen, wie leicht es ist, dogmatisch zu denken und zu sein und wissen, dass das Menschliche immer auch im anderen zu finden ist.

Zugegeben: bypassing ist schneller und einfacher, als das ‘leaning in’ (sich hineinlehnen). Aber wenn wir uns anschauen, wie weit wir zwischenmenschlich gekommen sind, ist es sicher, dass es nicht effektiv ist.

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Geborgenheit - erste Gedanken