Bei dem bleiben, was ist
Es scheint kontraintuitiv, aber wir finden leichter Lösungen für unsere (zwischenmenschlichen) Probleme, wenn wir bei dem bleiben, was ist.
Oft weil sich die Lösungen von selbst zeigen bzw. es klar wird, ob es überhaupt einer Lösung bedarf. Wir streben nach Lösungen, wenn Situationen oder Beziehungsthemen für uns unangenehm bis schmerzhaft werden. Das können wir naturgemäß nur schwer ertragen. Dann kommt es vor, dass wir dem Kind, das zu uns kommt und uns von seinen Ängsten berichtet, direkt Vorschläge machen, wie es seine Angst überwinden kann, anstatt Raum zu geben für dieses Gefühl der Angst.
Gefühle wollen gefühlt werden. Sie wollen da sein und das sein, was sie sind. Kein Gefühl hält ewig. Indem wir es aber rasch mit unserer Analyse und Interpretation überfrachten, wird es zu etwas, was uns (unbewusst) begleitet und viele unserer Handlungen antreibt und unserer Perspektiven formt.
Unsere Gefühle, die durch unser Narrativ zur Emotion werden und sich in uns festsetzen, reichen weit in unsere Beziehungen rein und werden dort immer wieder getriggert.
Und auch hier überspringen wir sehr oft den Schritt, bei dem zu sein, was sich zeigt und damit ist.
Es gibt eine schöne Anekdote einer Meditationslehrerin, die einige Tage hintereinander versuchte, einen einen Platz in einem Retreat zu ergattern, aber niemals die Person (Anna) erreichte, über die der Platz gebucht werden konnte. Als ihr erneut mitgeteilt wurde, dass Anna gerade nicht verfügbar sei, sagte sie resigniert: “Ok, das bedeutet wohl, dass das Universum mich für dieses Retreat nicht vorgesehen hat.'“, woraufhin die Dame am Telefon meinte: “Nein, das bedeutet nur, dass Anna gerade nicht verfügbar ist.”
Wir gehen schon schnell in Annahmen und ziehen unsere Schlüsse über die Situation oder andere Person daraus, ohne klar zu erkennen, was rein objektiv ist.
Deshalb ist es so wichtig, dass wir in unseren Beziehungen immer wieder abklopfen, ob wir mit unserer Annahme überhaupt richtig liegen. Das können wir, indem wir uns mehr darauf konzentrieren, was wir beobachten, ohne das wir der Beobachtung bereits Bedeutung gegeben haben.
Es kann unheimlich erleichtern und klären, wenn wir uns mit den Menschen, die uns nahe liegen, erstmal auf der Ebene der Beobachtung, dessen was ist, treffen. Dann wird ein “Nie trägst Du den Müll raus, immer muss ich alles managen in diesem Haushalt” zu einem “Als ich gerade in der Küche war, habe ich den vollen Mülleimer gesehen. Ist er Dir auch aufgefallen?” Gerade bei den scheinbar trivialen Themen erhitzen sich ja oft die Gemüter und wir verfallen in Rolleninterpretationen (“immer mach ich alles”), die sich in unseren Beziehungsdynamik über die Zeit verfestigen bzw. manifestieren.
Abzuklopfen was ist, hilft uns auch zu erkennen, wo wir noch mit Filtern arbeiten und gar nicht klar sehen können, was ist. Es hilft ungemein, das Beobachten und das Mitteilen von Beobachtungen zu trainieren, um präsenter zu werden, für uns selbst, die Umwelt, einander und das Leben als solches.
Es trainiert die Kapazität, auszuhalten, was ist, egal, ob es schwer zu halten ist oder nicht. Damit werden wir auch füreinander zu einer wertvollen Ressource, durch die wir uns zunehmend erlauben, uns in unseren Gefühlen, Bedürfnissen und Ideen auszudrücken, ohne dass wir dafür direkt eine Lösung oder Umsetzung brauchen. Das Leben hat seinen Weg beides an uns heranzutragen, wenn wir offen sind in unserem Selbstausdruck.